Oben Mit

Wenn es richtig warm ist, dann ziehen sich viele cis-Männer schnell ihr T-Shirt aus. Dies aber ist ein Privileg und kann für andere Menschen sehr unangenehm sein. Privilegien haben es leider so an sich, dass sie für die, die sie haben, meist unsichtbar sind. Vielen ist nicht bewusst, dass das Bild von cis-männlichen nackten Oberkörpern gesellschaftlich normalisiert ist, wohingegen weibliche, nichtbinäre und manchmal trans nackte Oberkörper den öffentlichen Raum allein in sexualisierter Form prägen oder nicht in gesellschaftliche genderbinäre Norm passen und unangenehme Reaktionen hervorrufen. Es geht dabei nicht nur um das T-Shirt, sondern vor allem darum, dass wir in einer patriarchal geprägten Gesellschaft leben.

Gerade wenn Körper nicht den gängigen Schönheits- und Geschlechternormen entsprechen, ist Nacktheit ein gesellschaftliches Tabu. Von Sexismus betroffene Menschen, die trotzdem „oben ohne“ rumlaufen, werden dabei durch Blicke, Kommentare und andere Grenzüberschreitungen bewertet und zurechtgewiesen.

Diese Sexualisierung und Tabuisierung ist sogar rechtlich festgeschrieben: Laut Gesetz müssen mindestens die Brustwarzen von weiblich gelesenen Menschen bedeckt sein, ansonsten handelt es sich um „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ und stellt eine Ordnungswidrigkeit dar.

Natürlich kann es ein emanzipativer Akt sein, wenn sich vom Patriarchat oder den gängigen Schönheits- und Geschlechternormen unterdrückte Menschen mit unbekleidetem Oberkörper zeigen. Es kann eine Befreiung sein, sich den gesellschaftlichen Normen und Bildern zu widersetzen und einen neuen Umgang mit Nacktheit zu gewinnen. Dahin zu kommen, dass sich jede*r frei fühlen kann, ist eine Utopie und wir sind auf dem Weg zu ihr. Doch viele Menschen können sich nicht einfach ihr T-Shirt ausziehen und sind schwups frei, denn dazu gehört noch viel mehr. Die Abschaffung des Patriarchats zum Beispiel.

Auch wenn wir für eine andere, „bessere“ Welt kämpfen, sind wir in dieser Gesellschaft mit ihren Schönheitsidealen und ihrer sexualisierten Gewaltkultur sozialisiert. Wir wünschen uns daher, dass das Cömp ein Ort wird, an dem wir uns mit Privilegien und Herrschaftsmechanismen auseinandersetzen und gleichzeitig Alternativen ausprobieren. Doch auch hier müssen wir unsere Grenzen, und vor allem auch die Grenzen anderer (an)erkennen, zumal wir für eine begrenzte Zeit auf relativ begrenztem Raum zusammenleben. Das heißt, das Cömp ist nicht die gelebte Utopie, sondern Teil eines Weges dorthin.

Deshalb behaltet bitte eure T-Shirts, Tanktops, Bikinis an. Fühlt euch frei andere Menschen anzusprechen und nachzufragen, wenn ihr die Thematik nicht versteht oder euch an ihr stoßt (aber versteht auch, wenn die Person, die ihr in dem Moment ansprecht, vielleicht gerade keine Kraft oder keine Lust hat zu erklären, denn über Sexismus zu sprechen, kann gerade für betroffene Personen richtig anstrengend sein). Und fühlt euch ermutigt, Menschen anzusprechen, die kein T-Shirt tragen. Wenn ihr miteinander sprecht, wünschen wir uns einen respektvollen Umgang miteinander. Die „T-Shirt-Debatte“ kann einen Anstoß geben sich mit den eigenen Privilegien näher auseinanderzusetzen.

21. – 25. Juli 2021 Freie Feldlage Harzgerode